medienhaus/ — “Konzeptpapier” (2020)

Ausgangssituation

Am 11. März 2020 erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass der Ausbruch und die Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 ab sofort als Pandemie eingestuft sei; eine Epidemie, welche nun offiziell weltweite Auswirkungen habe – auch auf den Betrieb der Schulen.

An diesem Tag, genau drei Wochen vor Beginn des Sommersemesters 2020, wurde vielen Lehrenden, Schüler:innen, Studierenden, Eltern und Politiker:innen schlagartig vor Augen geführt, wie bedenklich es um die nun unabdingbare Digitalisierung an deutschen Schulen steht und wie wir keineswegs auf ein oder mehrere etwaige „digitale Semester“ vorbereitet sind.

Problemidentifikation

Das Lehren und Lernen der freien Künste lebt vom angewandten und selbstbestimmten praxisorientierten Arbeiten sowie vom interdisziplinären und zwischenmenschlichen Austausch. Die einzelnen Bereiche der Künste und gestalterischen Disziplinen unterscheiden sich und müssen individuell behandelt werden, weshalb man für das digitale Studium der Künste nicht einfach auf ein generalisiertes digitales Werkzeug zurückgreifen kann; von allen Details und Fragen rund um Datenschutz, Privatsphäre, Sicherheit und letztendlich etwaigen Lizenz- und Betriebskosten ganz zu schweigen.

Durch Zoom, Webex, et cetera nutzen wir eine Schnittstelle zu anderen Menschen so, wie die Companies es vordefiniert haben; und nicht wie es der zu nutzende Kontext eigentlich verlangen sollte.
Norbert Palz, Präsident der Universität der Künste Berlin

Auch an der Universität der Künste Berlin standen wir im März 2020 vor dieser unverhofft problematischen Situation. Das Arbeiten, Experimentieren, Forschen und Studieren konnte im kommenden Sommersemester keineswegs in den etablierten Ateliers, Klassenräumen, Studios und Werkstätten stattfinden; ein uneingeschränkt intuitiver verbaler Austausch zwischen Lehrenden und Studierenden war fortan nicht mehr in konventioneller Weise denkbar.

Die große Frage lautete: Wie können wir die in den Künsten und gestalterischen Disziplinen vorherrschenden physischen individuellen Arbeitsprozesse in den digitalen Raum übertragen; beziehungsweise inwieweit können wir unser physisches Arbeiten um adäquate digitale Werkzeuge erweitern?

Wie können wir auch hybride Formen künstlerisch-wissenschaftlicher Lehre durch solche digitalen Werkzeuge strukturell effektiver machen und mit bewährten digitalen Kommunikationsformen innovativ verbinden?

Problemlösung

Für eine nachhaltige und unabhängige Digitalisierungsstrategie von Bildungsinstitutionen sollten adäquate digitale Werkzeuge dieser Art unbedingt datenschutzkonform, lizenzfrei, intuitiv verständlich, skalierbar, nachvollziehbar, überprüfbar sicher, zeitgemäß und zukunftsorientiert sein.

Es gibt etliche freie digitale Werkzeuge, welche alle unbedingten Anforderungen erfüllen; jedoch gibt es bisher nicht einen etablierten Ansatz, solche Werkzeuge im Rahmen einer modularen, integrierten und erweiterbaren Plattform zusammengeschnürt einzubetten. Eine „digitale Werkzeugkiste“ in welcher man alle Werkzeuge vorfinden kann, welche man für digitales Lehren, Lernen und Kollaborieren benötigt.

An diesem Konzept arbeitet ein kleines interdisziplinäres Entwicklungsteam von Studierenden und Lehrenden innerhalb der Universität der Künste Berlin nun seit zehn Monaten; eine individuell konfigurierbare Plattform für digitales Lehren, Lernen und Kollaborieren, welche interessierte Institutionen eigenständig installieren, modifizieren und erweitern können, die auf den besonderen Erfahrungswerten der Künste im Bereich selbstorganisierter Arbeits- und Gestaltungsprozesse aufbaut.

We developed medienhaus/ — not replacing but extending the physical space.

In unserem medienhaus/ Projekt stehen interdisziplinärer und zwischenmenschlicher Austausch im Dienste emergenter, nicht vorherbestimmter gestaltender Prozesse im Mittelpunkt; Dreh- und Angelpunkt in unserem konzeptionellen Ansatz ist ein an den physischen Raum angelehnter, aber nicht visuell skeuomorph abgebildeter, asynchroner Kommunikations-Hub namens /classroom, welcher als selbstorganisierender Treff- und Sammelpunkt für Klassen, Kurse, Seminare und Projektformen jedweder Art in einzelnen digitalen /classroom-Kanälen fungiert, die im Unterschied zu konventionellen Chat-Rooms auch asynchrone Diskussionen zulassen und persistent lange kommunikative Projektprozesse einsehbar, kommentierbar und archivierbar machen.

Einzelne Räume solcher vielfältigen Projektorganisationsformen können flexibel, je nach individuellen Anforderungen und Ansprüchen, und modular erweitert werden. Die Erweiterungsmöglichkeiten sind quasi endlos; einige initial von uns zur Verfügung gestellte Erweiterungen sind beispielsweise skalierbare Audio-/Video-Konferenzen, kollaboratives Schreiben und Editieren, kollaboratives Whiteboard zum Layouten und Skizzieren, Live-Streaming und Stream-Watching – alles aufrufbar und abbildbar im selben Browser-Fenster.

All diese Erweiterungen – und noch viele mehr; prinzipiell jedwede Web-Applikation – können in individuelle /classroom-Kanäle eingebunden werden und stehen kontextsensitiv für alle Teilnehmenden ohne Wechsel in andere, proprietäre Anwendungen zur Verfügung. Sogar eine Verknüpfung mit bekannten und etablierten (eher statisch strukturierten) LMS-Lösungen wie Moodle ist möglich und könnte eine Synthese dieser beiden Paradigmen anstoßen und das beste beider Welten im Dienste eines neuen digitalen Lernansatzes für Generationen, die bereits von Anfang an mit Social Media und eigenbestimmter digitaler Kommunikation groß geworden sind, hervorbringen.

Föderierte Kommunikation

Unsere medienhaus/ Plattform führt alle Beteiligten durch die hier verwendete moderne Technologiegrundlage intuitiv an das Paradigma föderierter Kommunikation heran; diese Funktionalität ermöglicht unseren /classroom-Kanälen eine externe Vernetzung und damit einen Austausch über die Grenzen unserer Universität der Künste Berlin und institutioneller Organisationsformen hinaus.

Verschiedene Bildungsinstitutionen stellen ihren Lehrenden, Studierenden und Mitarbeitenden eine eigene – beispielsweise im Netzwerk dieser Bildungsinstitution physisch verortete – medienhaus/ Instanz zur Verfügung; dies kann aber auch jede andere Plattform mit gleicher technischer Grundlage sein, siehe folgend.

Mithilfe dieser Föderations-Funktion können beispielsweise die beiden Nutzer:innen @alice:udk-berlin.de und @bob:tu-berlin.de nun auch in bislang über durch unterschiedliche technische und lizenzrechtliche Lösungen – wie Slack, Microsoft Teams, Cisco Webex Teams, Mattermost, WhatsApp, Facebook, et cetera – voneinander abgeschotteten Kollaborationskanälen hinweg miteinander in einem vergleichbaren Format kommunizieren; ebenso können Studierende der Universität der Künste Berlin die verschiedenen öffentlich föderierten Räume von Kursen der Technischen Universität Berlin einsehen und betreten – und natürlich umgekehrt.

Schulen könnten sich international ohne technisch-organisatorischen Mehraufwand auf einfache Weise vernetzen, wie die Universität der Künste Berlin es bereits im Sommer 2020 mit der „digital sandpits“-Kollaboration zusammen mit der University of Oxford in einem ersten Pilotprojekt erproben konnte.

Unsere medienhaus/ Plattform basiert auf dem Matrix-Protokoll; ein offener Netzwerkstandard, welcher eine sichere, dezentralisierte Kommunikation mit anderen Matrix-basierten Plattformen ermöglicht; es gibt eine Vielzahl verschiedener Matrix-Clients für die verschiedensten Systeme, das heißt es muss nicht zwingend die medienhaus/ Plattform verwendet werden, um über das Matrix-Protokoll zu kommunizieren.

Man kann sich das ein wenig wie E-Mail vorstellen; verschiedene Anbieter, verschiedene Clients auf verschiedenen Systemen, völlig unabhängig voneinander und dennoch können alle über das der E-Mail zugrundeliegende Protokoll miteinander kommunizieren. Im Rahmen dieses interinstitutionellen Netzwerks können sehr wertvolle Kollaborationen entstehen.

Dezentralisierte Infrastruktur

Der dezentrale, modulare und skalierbare Ansatz der von uns konzipierten freien und quelloffenen Plattform in Verbindung mit dem Prinzip des Edge Computing würde nicht nur großen Bildungsinstitutionen die Teilnahme an diesem föderierten Netzwerk ermöglichen, sondern auch anderen Organisationsformen bis hin zu beispielsweise kleinen Vereinen oder Einzelpersonen.

Personenbezogene digitale Werkzeuge können auf eigener ressourcenschonender Low-Tech Hardware installiert und betrieben werden; über diese Instanz erfolgt in ersten Linie die wesentliche Teilnahme am föderierten Netzwerk via Matrix; weiterhin kann auf solch ressourcenschonender Low-Tech Hardware beispielsweise das kollaboratives Schreiben und Editieren sowie ein kollaboratives Whiteboard zum Layouten und Skizzieren zur Verfügung gestellt werden.

Nicht-personenbezogene digitale Werkzeuge können von größeren Institutionen betrieben und – wenn gerade nicht ausgelastet – zur gemeinsamen Nutzung bereitgestellt werden; wie beispielsweise Audio-/Video-Telefonate, Audio-/Video-Konferenzen, Live-Streaming und Stream-Watching, et cetera.

Klima & Nachhaltigkeit

Dieser dezentralisierte und föderierte Ansatz bringt in Verbindung mit den Prinzipien des Edge Computing und Idle Resource Sharing zwei immense Vorteile mit sich:

Zum einen wird die Anzahl parallel betriebener, jedoch zu bestimmten Zeiten größtenteils ungenutzter, Hardware-Ressourcen reduziert; dies hat einen stromsparsameren und kosteneffektiveren Betrieb zur Folge, sowie die Reduktion des mit dem Betrieb einhergehenden CO2-Ausstoßes.

Zum anderen werden nicht ausgelastete und ungenutzte Hardware-Ressourcen solidarisch den anderen Mitgliedern des Netzwerks zur Verfügung gestellt; dies ermöglicht ein interinstitutionelles Ausbalancieren der Hardware-Last und ermöglicht vor allem kleineren Gruppen, Vereinen und Einzelpersonen ohne eigene Hardware-Ressourcen die Nutzung der nicht-personenbezogenen, im redundanten Betrieb sonst ressourcenhungrigen, digitalen Werkzeuge.

Die Klimakrise stellt die größte Herausforderung der jetzigen und kommenden Zeit dar, daher muss unserer Auffassung nach jegliches Vorhaben auf diesen Aspekt hin untersucht werden, um der Verschlimmerung dieser globalen Krise entgegenzuwirken.

Wir können für den Betrieb der medienhaus/ Plattform keine absolute CO2-Neutralität versichern; die zuvor beschriebene Low-Tech Hardware für personenbezogene digitale Werkzeuge könnte CO2-neutral betrieben werden; ressourcenhungrige nicht-personenbezogene digitale Werkzeuge müssten in Hardware-Clustern beziehungsweise kleinen Rechenzentren verortet werden, welche grundsätzlich auf CO2-Emissionen hin optimiert werden können, wie beispielsweise das Rechenzentrum der Freie Universität Berlin.

Für das Erreichen einer bestmöglichen CO2-Bilanz ist eine, wo sinnvoll, entschiedene Ausgewogenheit und Balance zwischen dezentralisierten und zentralisierten Hardware-Ressourcen für digitale Werkzeugen zu empfehlen.

Grundsätze

Das medienhaus/ Konzept basiert auf verschiedenen technologischen Grundsätzen:

Hackerethik des Chaos Computer Club e. V.

Die großen kommerziellen Plattformkonzerne bieten die Nutzung ihrer Plattform augenscheinlich ohne Forderung eines Entgelts an; und verzeichnen dennoch exorbitante Gewinne. Dieses Geschäftsmodell stellt aber das im System verankerte Grundproblem dar:

Primär profitorientierte Firmen können nicht im Sinne des Schutzes persönlicher Nutzer:innen-Daten handeln, denn erst mit der Verarbeitung dieser persönlichen Daten werden die eigentlichen Gewinne der Firmen generiert.

If you’re not paying for the product, you are the product.

Gestalter:innen und Programmierer:innen haben mehr denn je eine gewachsene Verantwortung, sich dieser Zusammenhänge bewusst zu sein und nach den oben genannten Grundsätzen zu handeln, denn die von ihnen gestalteten und entwickelten Produkte werden von einer Vielzahl von Menschen benutzt und haben im Zeitalter digitaler Plattformen kollektiv prägenden Einfluss.

Durch staatliche und gemeinnützige Gelder finanzierte Hard- und Software-Projekte müssen als frei und quelloffen verfügbar gemacht werden, denn nur so kann eine Form der Rückführung der aufgewendeten Gelder an die Gemeinschaft gewährleistet werden.

Dezentralisation und Föderation sind Optionen einer alternativen Zukunft; zum aktuellen Zeitpunkt können wir noch dem vorherrschenden Paradigma eines hemmungslosen Datenkapitalismus konzeptionell an der Wurzel etwas entgegensetzen (mit Ansätzen wie in dem von uns versuchten Projekt) und würden gerne gemeinsam eine solche Trendwende proaktiv mitgestalten.